Heinz-Dieter Gerstenköper der "Warsteiner"

Die Härteübung

Stabsfeldwebel Mausewolf war ein echter Kamerad, ein echter Herr


Die letzten Tage waren angebrochen und nun wollten unsere Ausbilder wissen, ob wir kriegstauglich sind. Dafür hatten sie die "Härteprüfung" erfunden.


Unsere Grundausbildung endete am 31. Dezember 1961. Über unsere Zeit in Hemer könnte man noch viel erzählen. Wir wurden gequält und geschunden. Man brachte uns an unsere körperlichen und physischen Grenzen, aber was sich daraus entwickelte, war eine echte Kameradschaft. Nur wer das erlebt hat, kann da mitreden. Wenn man glaubte, dass man am Ende war, wurden nicht viele Worte gemacht, da half einer den anderen auf die Beine. Und weil es die letzte Selbstverständlichkeit war, wollte niemand dafür Dank ernten. Kameradschaft wird in den meisten Fällen eher definiert als eine Gemeinschaft Gleich-gesinnter, die sich treffen, um beispielsweise Schützenfest zu feiern. Mit echter Kameradschaft hat das aber rein Garnichts zu tun. Echte Kameraden sind Menschen, die ohne Eigennutz für andere Menschen da sind. Es gab ganz speziell in der Grundausbildung Situationen, in denen man als einzelner Soldat nichts war aber erst die kameradschaftliche Bindung zu Menschen aus unserem Umfeld formten so nach und nach echte Kameraden aus vielen von uns.


Ich erinnere mich an unsere Härteübung Mitte Dezember 1961 im Raum Altena als Abschluss unserer Grundausbildung. Wir wurden mit UNIMOG-Panzer-Attrappen jeweils zu Gruppen von acht Rekruten irgendwo im Umfeld von Altena ausgesetzt und marschierten mit vollem Gepäck nachts zum Übungsplatz bei Altena, um dort im Dezember 1961 bei Kälte und rationierter Verpflegung eine Stellung gegen feindliche Angriffe auszubauen. Der Marsch dorthin fiel mir äußerst schwer und ich hatte sehr große Mühe durch zu halten. Nachdem wir unser Lager und die Stellungen ausgebaut hatten, war ich total am Ende. Trotzdem teilte man mich zur Nachtwache ein. Ich wusste, dass ich die Wache nicht durchstehen würde, und die Kameraden meiner Gruppe machten sich echte Sorgen um mich. Auf ein Wachver-gehen stand damals in der Regel acht Tage Bau. Um 22.00 Uhr konnte ich mich ins Zelt legen und bat darum, dass man mich 10 Minuten vor meiner Wache wecken möge. Ich legte mich zum Schlafen ins Zelt und war sofort im Tiefschlaf. Als ich wach wurde, war es inzwischen draußen hell und meine Uhr zeigte 10:00 Uhr an. In mir stieg es heiß auf, Wache verpasst! Ich fühlte mich körperlich hervorragend, aber machte mir große Sorgen. Einer aus unserer Gruppe kam auf das Zelt zu gestiefelt, schmiss sein Gewehr rein und sagte nur: „Man bin ich kaputt!“ Ich fragte ihn, was mit meiner Wache passiert ist. Er sagte nur beim Gähnen: „Wir haben dich pennen lassen und deine Wachen übernommen, du warst ja total im Eimer!" Ich hätte heulen können. Niemand hatte etwas gemerkt und ich war aus dem Schneider. Ich hatte echte Kameraden, sie haben das für mich erledigt, ohne dass sie dadurch einen Vorteil hatten.


Er erzählte mir dann noch eine unglaubliche Geschichte, die ich aufgrund meines narkoseähnlichen Schlafes nicht mitbekommen habe. Abends saßen die Unteroffiziere und Feldwebel vor ihren Zelten und haben eine große Sauferei veranstaltet. Völlig besoffen haben sie dann um Mitternacht die Zelte der Rekruten mit Leuchtspur beschossen. Unsere Vorbilder hatten großes Glück, dass die Zelte nicht in Brand geschossen wurden und das niemand zu Schaden gekommen ist.     


Zugführer Stabsfeldwebel Mausewolf, hager gebaut, aber ein ganz harter Knochen. Er war nicht gut auf seine primitiven Schleiferkapos zu sprechen. Unserm Trupp verriet er, dass die Offiziere und Feldwebel heute Nacht einen Angriff auf unsere Verteidigungslinie planten. Das lief üblicherweise so ab, dass wir im Schützengraben angegriffen wurden und die Angreifer und die Angegriffenen ballerten mit Platzpatronen und Leuchtspur in der Gegend rum und machten dabei ein riesiges Geschrei, um uns einzuschüchtern. Üblicher Weise gewannen sie die Schlacht immer. Aber wir hatten unseren Geheimwaffe Oberstabsfeldwebel Mausewolf, einen bewerten Panzernahkämpfer mit allen Orden, die das Dritte Reich zu vergeben hatte.


Vorab möchte ich noch schildern warum wir den Stabsfeldwebel so vergötterten.


Zu einer Geländeübung am 12. November 1961, die Temperaturen lagen in Gefrierpunktnähe, ließ er eine Panzerhaftmine mitnehmen. Da es Übungsmunition war, hatten sie nur eine geringe Sprengkraft aber mit einer enormen Rauchentwicklung und machte ein gewaltiges Getöse. Während wir uns von der Ausbildungskompanie noch in der Lernphase befanden, donnerten die Jungs vom Panzerbataillon 204 mit ihren amerikanischen M42 wild in der Gegend herum. Sie übten irgendwelche Angriffs-taktiken. Wir Anfänger von Ausbildungskompanie hatten damit eigentlich nichts zu tun. Wir übten fleißig anschleichen, hinwerfen und aufstehen. Unserm Stabs-feldwebel juckte es in den Fingern. Er wollte uns unbedingt zeigen, wie ein einzelner Soldat einen Panzer ausschalten kann. Mit der Haftmine vor der Brust, robbte er immer auf seine Deckung achtend einen kleinen Hügel hinunter und lauerte auf einen Panzer. Uns rief er zu: „Der nächste gehört uns!“ Ein M42 kam durch die kleine Mulde angerauscht und Mausewolf sprang aus seiner Deckung, schmiss sich mit der Mine in den Händen vor den Panzer. Wir konnten nur noch sehen, wie er sich flach machte und der Panzer in voller Fahrt über ihn wegfuhr. Ehe wir uns von dem Schreck erholen konnte, stand er hinter dem Panzer schon wieder aufrecht und mit einem Hechtsprung war wieder in unsere Mitte und rief: „Aufpassen!“ Dann knallte es einmal heftig und der Panzer stand im Nebel der Haftmine. Die Luke flog auf und die Besatzung hatte es eilig, aus ihrem M42 zu kommen. Sie sprangen mit großen Sätzen von dem Stahlkollos und wunderten sich, dass äußerlich an ihrem Fahrzeug nichts kaputt war. Es hat eine Weile gedauert, bis ihnen klar war, was passiert war.


Wir bewunderten diesen Mann, unser Stabsfeldwebel. Kurz darauf hatte er noch einen Auftritt. Als Kinder hatten wir s.g. Schwenkelbüchsen. Das waren Konservendosen mit stark eingepresster Holzwolle und ein bisschen Feuer. Die Büchsen qualmten gewaltig. Mausewolf machte zwei Dosen zurecht und verband die mit einem dünnen Seil. Beim nächsten Panzer warf er die so kunstvoll ab, dass sich das Seil um das Kanonenrohr wickelte und dem Panzerfahrer durch den Rauch die Sicht nahm. Die Jungs wussten nicht so richtig, was los war und sprangen vorsichtshalber aus dem Panzer. Im Ernstfall wären sie für uns eine leichte Beute gewesen.

Stabsfeldwebel Mausewolf war für uns ein Held und ein guter Kamerad.


Er suchte sich 15 Soldaten zum Spähtrupp aus, um zu erkunden, ob die „Russen“ einen Angriff vorbereiteten. Als wir aus der Sichtweite der Kompanie waren, hielt er uns an, ließ eine Kreis um sich bilden und legte mit gedämpfter Stimme los: „Passt auf Jungs, morgen um 23:00 Uhr werden wir in unserer Stellung angegriffen. Wir scheißen was auf Platzpatronen, wir machen etwas, womit die nicht rechnen. Hinter dem Hügel sind Haselnussbüsche, schneidet euch jeder einen stabilen Zweig ab, ungefähr so dick und so lang wie ein Krückstock. Der Angriff von denen kommt zunächst direkt von vorne, aber ein Trupp setzt sich ab und greift uns von hinten an. Wir bilden zwei Fronten, eine für den Hauptangriff und eine für die Abwehr nach hinten. Ich bin dann mitten drin und ihr hört nur auf mein Kommando, habt ihr gehört Jungs, nur auf mein Kommando! Also, es fällt kein Schuss von uns, sobald sie in der Nähe unserer Gräben sind, gebe ich den Befehl für den Angriff. Die hintere Verteidigungslinie bleibt dann erst einmal ruhig. Auf mein Kommando springt ihr mit euren Stöcken raus und haut so feste zu, als ob gäbe es kein Morgen mehr und das Ganze mit viel Gebrüll. Schreit so laut ihr könnt immer Hurra! Wenn ihr das gut macht und gut draufgehauen habt, sind die weg und dann auf mein Kommando alle kehrt auf die hintere Linie los.“


So jetzt ab, Kappmesser raus und Stöcke schneiden. Aufgepasst, dass niemand was merkt, gut verstecken. Ihr schiebt die hinten durch den Hemdkragen rein bis zum Arsch, dann könnt ihr normal laufen und keiner sieht was.

Was für ein toller Kerl. Die Schlacht fand statt und wir haben gewonnen. Die Angreifer konnten einem am nächsten Tag schon etwas leidtun. Beinahe alle hatten Blessuren. Am schlimmsten hatte es Leutnant Adams getroffen. Der einundzwanzigjährige Leutnant hatte mehrere Verbände und machte einen sehr unglücklichen Eindruck.


Am Nächsten Tag schickte man mich auf Spähtrupp nach Marschzahl. Ich spazierte also der Richtung der Kompassnadel nach in den Wald. Leider wusste ich nicht, dass sich die Ausbilder an vielen Stellen versteckt hielten, um mich zu benoten und mein Verhalten war dementsprechend, so als ob ich alleine unterwegs wäre. Von zuhause wurde ich immer gut versorgt und hatte auch immer einige Leckereien im Rucksack. Auf dem nächsten Baumstumpf nahm ich Platz und holte eine Dose Ölsardinen raus, die mir meine Tante Anna aus Lippstadt geschickt hatte. Danach nahm ich einen Apfel in die Hand und den Helm hing ich an meinem Gürtel. Das Gewehr locker waagerecht mit dem Riemen über die Schulter, so dass es bequem waagerecht hing und machte mich auf den Weg gemäß der Kompassanzeige. Irgendwann war der Wald zu Ende und ich blickte von meiner Anhöhe direkt in die Bürofenster der Firma Graetz-Fernseher. Die Angestellten wurden auf mich aufmerksam und öffneten gutgelaunt die Fenster. Jemand rief: „Die Russen kommen!“ Eine junge Frau fragte: „Können wir was für Sie tun?“ Ich rief rüber: „Kann man hier irgendwo etwas trinken?“ Hundert Meter weiter sei eine Seltersbude, da gäbe es Cola. Als ich mit meinem Gewehr in der Bude auftauchte hatte ich viel mehr Platz als ich brauchte. Ich bekam meine Cola und machte mich auf den Rückweg. Übrigens brauchte ich die Cola nicht bezahlen.


Es war für mich nicht ganz einfach, den Rückweg zu finden, aber irgendwann traf ich wieder bei der Kompanie ein. Eine Stunde später war Besprechung und Auswertung. Ich konnte nichts sagen, weil ich keinen Feind getroffen hatte. Das mit der Imbissbude behielt ich für mich. Als ich an der Reihe war und beurteilt wurde, erfuhr ich, dass beinahe jeder Schritt von mir beobachtet wurde. Der Kompaniechef war fassungslos: „Da läuft der Kerl wie der Förster vom Silberwald in der Gegend herum, tritt uns fasst auf den Kopf und ist dabei am Mampfen als ob es morgen nichts mehr gibt“ Ich bekam die schlechteste Note von allen. Aber da bin ich ehrlich, die hatte ich mir auch redlich verdient.


Zurück in die Kaserne. Der Rückmarsch erfolgte nachts. Es wurden wieder Gruppen gebildet und wieder bekamen wir eine Marschzahl für den Kompass. Die Entfernung betrug so etwa 20 Kilometer. Die erste Gruppe sollte drei Tage Sonderurlaub bekommen, die Zweite zwei Tage und die Dritte einen Tag.


Nachts, und ohne Ortskenntnisse und nur nach Marschzahl, zwanzig Kilometer durchs Sauerland war eine nicht ganz einfache Angelegenheit. Von Altena nach Hemer war die direkte Linie etwa 200° In der Luft oder auf dem Wasser ist das kein Problem, die Gradzahl einzuhalten. Nachts über Berge, Steinbrüche oder über einen See, machte die Sache schwieriger. Wir hatten das große Glück, wir hatten unsere Geheimwaffe Lindner. Er war ein Sportler durch und durch und besonders gut im Langlauf. Dass ich mit dazu gehörte, war auch nicht das Schlechteste. Von Kindheit an wollte ich Pilot werden und konnte schon mit 10 Jahren prima mit einem Kompass umgehen. Also Lindner war unser Läufer und ich der Peiler. Lindner behielt nur noch seinen Sportanzug an und seine privaten Laufschuhe. Des weiteren erhielt er eine Taschenlampe, mit der man die Farben weiß, rot und grün darstellen konnte und einen Kompass. Ich behielt meine Marschausrüstung und eine Taschenlampe.


Lindner rannte immer 200 bis 300 Meter vor, blieb dann stehen und zeigte mit grün an, dass er bereit war, die Korrekturen zu empfangen. Über den Kompass konnte ich die Fehlstellung erkennen und blinkte ihn weiß an, wenn er mehr nach links und rot, wenn er mehr nach rechts musste. Sobald er auf der Linie der Marschzahl stand, blinkte ich grün und er wusste, er muss stehen bleiben bis wir bei ihm waren. So ging es dann bis nach Hemer weiter. Zwischendurch war eine Steinbruch und ein See, etwas hinderlich, aber Platz “1“ war sicher. Kurz vor dem Ziel gab es noch ein Stück Landstraße und da lauerte uns Heinrichs auf. Ich hatte einen guten Tag und übernahm noch zwei Gewehre und ein Sturmgepäck, weil zwei Jungs aus unserer Gruppe total am Ende waren. Sie schleppten sich dahin. Einer hatte schon Nasenbluten vor Überanstrengung. Ich hatte das Gefühl noch hundert Kilometer laufen zu können und es tat mir gut, den anderen ein Kamerad zu sein. 


Ach ja, wir belegten Platz 1, zufällig war eine Gruppe zusammengekommen, die auch außerhalb der Bundeswehr Sport betrieb. Hinter der Gruppe, zu der Günther Mertens gehörte stand: Zeit nicht feststellbar. Die Truppe hatte sich irgendwie aufgelöst und jeder kam einzeln und zu anderen Zeiten. Sie hatten sich im Dunkel der Nacht verloren. Eigentlich sollte der Kontakt zum Vordermann nie abreißen.

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